Meine Arbeitswelt besteht aus zwei Polen, die gegensätzlicher nicht seien könnten: Da ist zum einen ein Großkonzern mit einer klassischen, hierarchischen Struktur, bei der die meisten Entscheidungen in den oberen Geschäftsetagen gefällt werden und dann von oben nach unten „durchgereicht“ werden (top-down). Es gibt zwar hier und da neue Ansätze, diese Art der Unternehmensführung aufzuweichen, aber grundsätzlich ist es eher schwierig, sich als Mitarbeiter Gehör von „denen da oben“ zu verschaffen (bottom-up). Und das, obwohl man an der Basis ist, das Tagesgeschäft kennt (!), weiß, was die Kunden möchten (!) und die Kollegen der Produktion bräuchten, um effektiver zu arbeiten! Ich finde diesen Aspekt meiner Arbeit im Großkonzern sehr schade und befürchte, dass er (neben anderen Dingen) bei dem einen oder anderen Mitarbeiter dazu beitragen könnte, lediglich „Dienst nach Vorschrift“ zu machen.

„New Work“ bei Räubersachen
Deshalb bin ich sehr froh, dass ich noch einen anderen Pol in meiner Arbeitswelt habe: Nämlich  Räubersachen – ein kleines, feines Sozialunternehmen, welches weitestgehend ohne Hierarchie auskommt und bei denen die Meinungen und Erfahrungen von Mitarbeitern bei Unternehmensentscheidungen gehört und berücksichtigt werden. Dies erreichen wir im Wesentlichen durch diese beiden Punkte:

-> Mehr Eigenverantwortung und weniger Hierarchie durch Selbstorganisation: Bei Räubersachen sind die Mitarbeiter*innen in Teams (Kreisen) organisiert, die eigenständig ihre Arbeitsinhalte und -ziele festlegen und ohne einen Chef über ihren jeweiligen Arbeitsbereich entscheiden.

-> Echte Partizipation der Mitarbeiter*innen durch Soziokratie*

Selbstorganisation durch Soziokratie bei Räubersachen: Echte Mitbestimmung statt strikter Hierarchie und Top-Down-Entscheidungen
Die Soziokratie ist bei Räubersachen Mittel zum Zweck selbstorganisiert arbeiten zu können. Sie ist sozusagen die Basis von Räubersachen und ein extrem wichtiges Instrument – Das Steuerrad am Räubersachen-Schiff sozusagen.
Ich habe einmal gelesen, dass die Soziokratie eine Weiterentwicklung der Demokratie sei, und fand das sehr treffend: Bei der Demokratie entscheidet bekanntermaßen die Mehrheit, so dass der Einzelne mit seiner Meinung „untergehen“ kann. Im Gegensatz dazu wird in der Soziokratie jeder (auch die Introvertierten ;)) angehört und kann Lösungen zu einem Thema vorschlagen und beeinflussen. Und das alles unabhängig von der Hierarchie, d.h. die Vorschläge eines Räubersachen-Geschäftsführers und eines Räubersachen-Schuhputzers sind gleich viel wert!
Das wichtigste soziokratische Prinzip ist dabei, dass eine Entscheidung nur getroffen werden kann, wenn keiner einen schwerwiegenden und begründeten Einwand hat und alle einverstanden mit einem Vorschlag sind (Konsent). Im Gegensatz zum Mehrheitsentscheid der Demokratie wird also für einen soziokratischen Beschluss jede*r gehört und gemeinsam eine Lösung gefunden. Jede*r kann Befürchtungen und Einwände einbringen, die dann in den jeweiligen Vorschlag „miteingebaut“ werden. Es geht also bei der Soziokratie um die Integration unterschiedlicher Sichtweisen und Meinungen in einen Vorschlag.

Die soziokratische Praxis bei Räubersachen
Ein wichtiges Projekt, welches uns jetzt schon seit Anfang des Jahres begleitet ist der Geschäftsführerprozess: Ende 2019 kündigten die Räubersachen-Geschäftsführer Lisa, Felix und Melanie ihren Rücktritt an und Räubersachen stand vor einer gewaltigen Herausforderung: Bis Ende März, dem endgültigen Rücktrittstermin, musste entschieden werden, wie es weitergeht - mit Hilfe der Soziokratie.
Basis und Ausgangspunkt eines soziokratischen Prozesses sind persönliche Spannungen, die aufgrund der Ankündigung des Rücktritts der Räubersachen-Geschäftsführer bei den Räuber*innen aufkamen. Bringen wir diese Spannung mit der Organisationsebene in Verbindung entsteht ein Treiber, welcher beschreibt, was gerade passiert (Kontext: Räubersachen hat am 31.03.2020 keine Geschäftsführung mehr) und warum wir handeln sollten (Bedürfnis: Klarheit, wie Räubersachen ab dem 01.04.2020 weitermachen kann).**
 Jeder der Räuber*innen hat mindestens eine Spannung/Treiber eingebracht: Z.B. hatten viele Angst, wie es bei Räubersachen weitergeht, und ob sie ihren Arbeitsplatz behalten können. Andere Räuber*innen waren verunsichert, welche rechtlichen Pflichten überhaupt hinter der Geschäftsführerrolle*** steckten. Wieder andere sahen unsere Werte in Gefahr.
Im nächsten Schritt haben wir in Kleingruppen Vorschläge erarbeitet, welche die einzelnen Spannungen lösen und den Treiber bzw. den identifizierten Bedarf der Organisation erfüllen sollen. Z.B. könnte ein Workshop, in welchem alle Räuber*innen ihre Vorstellung von der Rolle der Geschäftsführung einbringen können und ein gemeinsames Bild der Rolle des Geschäftsführers erarbeitet wird, als Grundlage für die Findung der Geschäftsführung dienen. Weitere Vorschläge betrafen die Anstellung eines externen Geschäftsführers – manche Räuber*innen fanden, dass dieser ruhig mehr verdienen dürfe als der „Standard-Räuber“, andere lehnten dies ab (alle Räuber verdienen momentan dasselbe: 11 Euro/h). Alle Vorschläge wurden anschließend priorisiert und die Top 3 am 9. Februar zusammen mit Soziokratie-Coach Sabrina soziokratisch entschieden.
Den Ablauf der von Sabrina moderierten soziokratischen Entscheidungsfindung seht ihr in der Abbildung unten rechts dargestellt. Derjenige Räuber, der die Spannung/Treiber eingebracht hat, erläutert diese und stellt dem Plenum den vorab erarbeiteten Vorschlag zu dessen Lösung vor.

Soziokratie
Die Schritte im soziokratischen Prozess

Im nächsten Schritt können Verständnisfragen gestellt werden um anschließend gleich per Handzeichen ein erstes Stimmungsbild über den Vorschlag erstellen zu können. Dabei gilt z.B. ein Daumen hoch als Zustimmung, ein Daumen zur Seite steht für ein Bedenken und ein Daumen nach unten als Zeichen für einen validen Einwand.
Beispielsweise hatte ein Räuber Bedenken, dass durch die Durchführung des Geschäftsführerworkshops ein zu unrealistisches, perfektionistisches Rollenbild eines Geschäftsführers geschaffen würde, welches unerfüllbar wäre. Einwände werden im Gegensatz zu Bedenken in den Vorschlag integriert, da sonst die gemeinsame Sache gefährdet wäre z.B. weil eine wichtige Sache vergessen wurde. Z.B. stellte sich durch Einwände an diesem Tag heraus, dass wir neben einer Geschäftsführung, die sich eher den klassischen rechtlichen und strategischen Themen widmen sollte, zusätzlich noch eine Rolle brauchen, die sich mehr dem operativen Geschäft widmet: Eine*n Koordinator*in des Tagesgeschäfts eben.
Jeder neue, angepasste Vorschlag mit integriertem Einwand wird nun wieder in die Abstimmung gebracht, solange bis jede*r mit dem Vorschlag leben kann (Konsent). Es ist wichtig zu betonen, dass wir hier in der persönlichen Toleranzzone eines jeden arbeiten d.h. es wird natürlich nicht möglich sein, die eine Lieblingslösung für jede*n zu realisieren, sondern „nur“ eine Lösung, mit der jede*r leben kann. Dies ist aber meiner Meinung nach genau der Riesenvorteil an der Soziokratie: Die eigenen Einwände und Bedenken werden gehört und nicht einfach weggewischt! Die eigene Arbeitswelt wird beeinflussbar – im krassen Gegensatz zu strikt hierarchisch organisierten Unternehmen, wo der Chef über den eigenen Kopf hinweg entscheiden kann! Ich bin mir sicher, dass die Soziokratie damit wesentlich dazu beiträgt, die Mitarbeiter*innen intrinsisch zu motivieren und eben nicht nur Dienst nach Vorschrift zu machen.
Und zum Schluss: Wird gefeiert! Am Ende jeder Soziokratie-Session feiern wir unseren Erfolg: Dass wir es geschafft haben, gemeinsam eine Entscheidung zu treffen, mit der jeder leben kann! Eine Entscheidung, die vielleicht nicht perfekt ist, aber gut und sicher genug für den Moment, um sie zu testen!
Sehr beliebt beim Feiern waren bisher Singen (z.B. der allseits beliebte Heidi-Heida-Song), ein Räubersachen-Quiz und Tanzen. Auch die Leute am Rechner machen dabei mit – In mancher Tanzrunde gehen sie sogar mehr aus sich heraus, als die Leute vor Ort in Kanena ;)

Weitere, konkrete Beispiele für soziokratische Beschlüsse bei Räubersachen

-Rollenbeschreibung*** eines Koordinators für das operative Tagesgeschäft sowie des Geschäftsführers
-Die Räubersachen-Mitarbeiter*innen haben einen Wertekompass zum Konsent gebracht, der wirklich gelebt wird: Z.B. der Wert Transparenz: In unseren monatlich stattfindenden WILIKRAFEI-Treffen****, bekommen alle (!) Mitarbeiter*innen Einblick in Umsätze, Kosten und geplante Ausgaben.
Z.B. der Wert Gleichwertigkeit: Alle Mitarbeiter*innen verdienen dasselbe, nämlich 11 Euro/h, unabhängig davon, welcher Aufgabe sie nachgehen (Ja, das gilt auch für die zukünftigen Geschäftsführer*innen)!

Werte
Der Räubersachen-Wertekompass mit dem Wert Nachhaltigkeit im Zentrum

-500 Euro-Spende für die Neugestaltung eines Kinderspielplatzes in Kanena
-Verpflichtende Teilnahme am WILIKRAFEI für Mitarbeiter*innen des Reparaturteams erst nach 6 Monaten Betriebszugehörigkeit
-Höflichkeitsetikette und klare Kommunikationsregeln müssen in den Whatsapp-Gruppen eingehalten werden

Soziokratie einführen und alles wird gut?

Vielleicht denkt ihr jetzt: Wow, das klingt alles so wunderbar nach schöner, neuer Arbeitswelt! Aber ehrlichgesagt kann so ein soziokratischer Prozess manchmal echt frustrierend sein: Wenn z.B. das Meeting aufgrund technischer Bild- und Tonprobleme mit der in Corona-Zeiten verwendeten Apps fast eine halbe Stunde später startet als geplant und man schon genervt ist, bevor man überhaupt angefangen hat. Oder hitzige Diskussion losgetreten werden, die mit der eigentlichen Beschlussvorlage wenig zu tun haben und die Moderation einfach noch nicht erfahren genug ist, um dies zu unterbinden. Und gerade für die Remote-Leute***** wie mich (bzw. in Corona-Zeiten sitzen natürlich viel mehr Leute vor dem Rechner), kann es manchmal anstrengend sein, alles mitzubekommen und sich so lange am Rechner zu konzentrieren.

 Soziokratie

In Corona-Zeiten normal: Das erste WILIKRAFEI Anfang April, das hauptsächlich online stattfand


Außerdem kann ein soziokratischer Prozess schon mal verdammt lange dauern – man kann auch mal stundenlang über etwas beraten, was dann am Ende doch nicht gemacht wird. Z.B. sind wir – von außen betrachtet -  bei unserem Geschäftsführerprozess wieder „Zurück auf Los“: Eine interne Besetzung hat nicht geklappt, so dass wir jetzt extern auf die Suche nach einem neuen Geschäftsführer gehen. Aber auf diesem Weg haben wir so viel gelernt! Denn ohne die zahlreichen soziokratischen Sitzungen im Geschäftsführerprozess hätten wir jetzt weder eine Koordinatorin des Tagesgeschäfts, noch einen Visions- und Strategiekreis und auch keine Evaluation der Geschäftsführung.

Habt ihr Fragen und Anmerkungen, könnt ihr gerne kommentieren. Ich freue mich!

Fröhliche Räubergrüße sendet Euch

Eure Lisa

 

* Wenn Du mehr über Soziokratie erfahren willst, kannst Du hier und hier weiterlesen.

**Wegen Corona wurde dieser Zeitplan entzerrt und wir haben den Geschäftsführerprozess bis heute noch nicht abgeschlossen.

***Rollen in der Soziokratie entsprechen den Aufgabenbeschreibungen von Jobs in klassischen Unternehmen. Die Mitarbeiter*innen werden im soziokratischen Kreis für ihre jeweiligen Rollen gewählt.

****Kurzform für ein Kombi-Wort aus: Was ist los in meinem Unternehmen + Soziokratie + Feiern

*****Also Leute, die nicht direkt im Räubersachen-Hauptquartier in Kanena arbeiten, sondern sich aus Hamburg oder München (wie ich) online über Hangout oder Zoom dazu schalten.

 

Kurzweilige Lesetipps in Corona-Zeiten: Weitere Einblicke in die Arbeitsweise bei Räubersachen verschaffen Euch die wundervollen, wirklich berührenden Blog-Artikel von Astridhier und hier und hier.

Kommentare (2)
  • Hannah
    Danke für den ausführlichen Einblick, liebe Lisa! :-) Eine Frage habe ich noch: Gehören die beschriebenen Sitzungen zur bezahlten Arbeitszeit? Oder machen die Räuber das ehrenamtlich? Wenn zweiteres der Fall ist: wie geht ihr damit um, wenn Menschen nicht teilnehmen? Euch weiter alles Gute auf eurem Weg! :-)
  • Lisa Räubersachen
    Hallo liebe Hannah, vielen Dank für Deinen Kommentar & Dein Interesse! Ja, unsere soziokratischen Sitzungen gehören tatsächlich zur Arbeitszeit, d.h. alle Räuber*innen können bezahlt daran teilnehmen. Tatsächlich ist das "Nicht-Teilnehmen" ein interessantes Thema: Z.B. am Anfang wollten wir, dass alle verpflichtend und verbindlich am Geschäftsführerprozess teilnehmen (Natürlich waren begründete Ausnahmen natürlich). Letztendlich hat sich aber herausgestellt, dass man niemanden zwingen kann - und somit ist die weitere Teilnahme am GF-Prozess freiwillig und nicht mehr alle Räuber mit dabei. Ich hoffe, das hilft Dir weiter! LG Lisa

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